Gebietsreformen sind in Deutschland keine Seltenheit. Ob Kreise ganz neu gebildet werden, sie neue Gemeinden aufnehmen oder aber kleinere Kommunen in größere Städte eingemeindet werden: Für alle Konstellationen gibt es landauf, landab zahlreiche Beispiele. Eine Variante dagegen ist bis heute ein theoretisches Gedankenspiel – noch: die Auskreisung. Zwar startete die bayerische Stadt Neu-Ulm 2017 einen Versuch, sich aus dem gleichnamigen Landkreis zu lösen, scheiterte mit ihrem Vorhaben aber am Veto des bayerischen Innenministeriums. Auch der Kreis hatte zuvor vehement Widerstand geleistet, zu groß waren die Sorgen vor finanziellen Nachteilen. Ebenso erfolglos verlief ein ähnlicher Versuch der baden-württembergischen Stadt Reutlingen.
Nun aber hat sich die hessische Stadt Hanau auf den Weg gemacht, ihren Landkreis, den Main-Kinzig-Kreis, zu verlassen. Für Hanau wäre die Kreisfreiheit dabei kein unbekannter Zustand: Die Stadt war einst unabhängig, erst 1974 wurde sie durch die hessische Gebietsreform in den benachbarten Landkreis eingegliedert. Seitdem fungiert sie – genau wie sechs andere kreisangehörige Kommunen, die bei der Gebietsreform mehr als 50.000 Einwohner zählten – als Sonderstatusstadt: Sie erfüllt auch Tätigkeiten, die eigentlich zum Aufgabenkanon von kreisfreien Städten oder Kreisen gehören.
Seit 2005 Wunsch nach Auskreisung
Mit diesem Zustand ganz arrangiert hat sich die „Brüder-Grimm-Stadt“ indes nie. 2005 kochten die Emotionen hoch, als sie ihre Stellung als Kreisstadt an das deutlich kleinere Gelnhausen verlor. Die Antwort aus Hanau folgte prompt: Die Stadtverordneten votierten erstmals offiziell für eine Auskreisung. „Der Beschluss war eine politische Reaktion. Wir haben ihn als Magistrat respektiert, die Umsetzung aber noch nicht massiv vorangetrieben“, erinnert sich Claus Kaminsky, seit 2003 Oberbürgermeister von Hanau.
Die Richtung aber ist mit dem Beschluss vorgezeichnet. 2018 startet die Stadt einen neuen Anlauf. Geebnet wird ihr der weitere Weg 2020 durch eine Änderung der Hessischen Gemeindeordnung. Diese enthält seitdem den Passus, dass Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern auf Antrag durch ein Gesetz zur kreisfreien Stadt erklärt werden können. Hanau kratzt zu diesem Zeitpunkt an dieser Marke, Mitte 2021 überschreitet die Stadt die Schwelle. Zwischenzeitlich hat der Landesgesetzgeber Hanau sogar von dieser Regelung ausgenommen, um die schon laufenden Gespräche zur Auskreisung nicht abzuwürgen. Das Gesetz gilt seitdem auch als „Lex Hanau“ – praktisch relevant ist es erst vor wenigen Tagen geworden, als das Statistische Landesamt der Stadt auf Basis des Zensus 2022 nur knapp 94.000 Einwohner zugewiesen hat.
Kaminsky: „Idee der kommunalen Selbstverwaltung“
Für den Oberbürgermeister ist die Motivation für das Vorhaben selbsterklärend: „Dahinter steckt die Idee der kommunalen Selbstverwaltung: Alles, was man vor Ort erledigen kann, sollte man auch vor Ort erledigen können. Wenn man die Verfassung ernst nimmt, ist es nur logisch, dass Hanau als Hessens kleinste Großstadt mit heute über 105.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, Tendenz weiter steigend, sich aus dem Kreis herauslöst.“
Auch die Lebenswirklichkeit sei in der Stadt am westlichen Rand des Main-Kinzig-Kreises, die mit weitem Abstand vor Maintal mit seinen 40.000 Einwohnern dessen bevölkerungsstärkste Kommune ist, eine andere als im restlichen Kreisgebiet. Kaminsky: „Hanau mit seinen speziellen, gerade auch sozialstrukturellen Herausforderungen braucht zum Beispiel eine Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss. Wir möchten die zentralen Dienstleistungen in Hanau anbieten.“ Das Kreishaus in Gelnhausen, fügt er hinzu, sei im Übrigen mit einer Distanz von rund 25 Kilometern zu Hanau weiter weg als der Frankfurter Römer in 18 Kilometern Entfernung. Die Lebenswirklichkeit der Hanauerinnen und Hanauer spielt sich eher in Frankfurt-Rhein-Main ab als im Osten von Hanau.
Das letzte Wort bei der Auskreisung allerdings hat das Land – so will es das Gesetz. Wiesbaden signalisiert aber schon früh, dass es kein Veto einlegen wird, wenn Stadt und Kreis sich untereinander verständigen. Während in Hanau das Votum für die Kreisfreiheit einstimmig ausfällt, zeigt sich auch der Landkreis von Anfang an gesprächsbereit. „Wenn die kommunale Selbstverwaltung und die Hessische Gemeindeordnung das Verfahren zulassen, gibt es keine Grundlage für uns, unsere Mitwirkung zu verweigern“, fasst Landrat Thorsten Stolz lakonisch zusammen. „Der Zug rollt. Die Frage ist nur, wann er in den Bahnhof einfährt.“
Fehlende Blaupausen für die Trennung
Die größte Herausforderung zeigt sich in den ersten Gesprächen: Nach den gescheiterten Versuchen von Neu-Ulm und Reutlingen gibt es weder ein Vorbild, das Orientierung bieten würde, noch detaillierte gesetzliche Vorgaben für die juristische Trennung von Kreis und Stadt. „Man fängt an mit einem leeren Blatt Papier“, sagt Matthias Menke rückblickend. Der Frankfurter Gesellschaftsrechtler von der Kanzlei Görg berät gemeinsam mit seinem Kollegen Heiko Hofmann, der auf das öffentliche Wirtschaftsrecht spezialisiert ist, den Kreis in dem Prozess. „Der Landkreis und die Stadt haben zunächst separat die Folgen einer Auskreisung simuliert und dann jeweils eine Liste mit den für sie kritischen Punkten – zum Beispiel Zusatzkosten oder fehlendes Personal – erstellt.“ Diese Listen und die ersten Verhandlungsergebnisse dazu seien dann zur inhaltlichen Basis für den Auskreisungsvertrag geworden. „Wir mussten die komplette Verwaltungstätigkeit von Landkreis und Stadt in den Blick nehmen. Das war ein Husarenritt durch das gesamte öffentliche Recht“, erinnert sich Hofmann.
Eine Vorgabe steht von Anfang an fest: Die Auskreisung soll den übrigen 28 kreisangehörigen Kommunen keine Nachteile bringen. Eine hochgesteckte Prämisse, denn der Einschnitt für den Kreis ist schon auf dem Papier massiv: Lässt er die Stadt Hanau ziehen, verliert er fast jeden vierten seiner rund 430.000 Einwohner und damit auch seinen Rang als bevölkerungsstärksten Kreis des Bundeslandes. Den würde dann der Landkreis Offenbach mit seinen gut 360.000 Einwohnern einnehmen.
Stolz: „Lösungen für alle Risiken gefunden“
Der Vertrag muss deshalb klare organisatorische und finanzielle Absprachen beinhalten. Das gilt zum einen für Bereiche, in denen Stadt und Landkreis von der Aufgabenverteilung abweichen wollen, die die hessischen Kommunalgesetze ihnen automatisch zuschreiben. So wollen etwa beide weiterhin einen gemeinsamen Rettungsdienstbezirk bilden und eine gemeinsame Rettungsdienstleitstelle betreiben. Für alle Dienstleistungen, die der Main-Kinzig-Kreis weiter für die Stadt Hanau erbringe, würde diese eine Erstattung auf Vollkostenbasis leisten, erklärt der Landrat. „Aus diesem Block werden uns aller Voraussicht nach keine finanziellen Nachteile entstehen.“
Aber auch in Bereichen, die die Stadt ohne Kreiszugehörigkeit selbst organisieren muss, fallen mitunter beim Kreis noch Kosten an – zum Beispiel in der Abfallwirtschaft. Hanauer Müll aus den vergangenen Jahrzehnten lagert auf kreiseigenen Deponien, die auch in den kommenden Jahrzehnten betreut werden müssen. Stolz: „Da wird die Stadt sich mit 42 Prozent quotal an den Kosten des Kreises beteiligen.“ Auch an vielen anderen Stellen sieht der Vertrag Ausgleichszahlungen vor: so bei den Ansprüchen aus dem Sondervermögen der Hessenkasse oder bei Pensionsverpflichtungen für Beamte, die beim Kreis Aufgaben für die Stadt erledigt haben. „Wir haben über alle Risiken, die wir erkannt haben, verhandelt und Lösungen gefunden“, sagt Stolz. Aber: „Man kann nicht heute für alle Ewigkeit alle Nachteile ausschließen.“ Im vergangenen Sommer segnete der Kreistag den Auskreisungsvertrag mit 55 von 73 Abgeordnetenstimmen ab.
Auch Kaminsky, in Personalunion Oberbürgermeister und Kämmerer, hält das Ergebnis für fair und ausgewogen: „Weder Stadt noch Kreis werden durch die Auskreisung arm oder reich.“ Die Stadt würde dann aktuell etwa 50 Millionen Euro Kreisumlage pro Jahr sparen und rund 63 Millionen Euro zusätzlich als Schlüsselzuweisungen vom Land erhalten. „Das sind Haushaltsverbesserungen von 113 Millionen Euro, mit denen wir gut die zusätzlichen Aufgaben und Stellen werden finanzieren können“, rechnet Kaminsky vor.
Kritik von politischer Seite
Dass die Auskreisung zu einem Nullsummenspiel gerät, glaubt indes nicht jeder. „Bei dem Vorhaben schwingt viel Hoffnung mit, dass es keine Zusatzkosten verursacht. Genau quantifizieren kann man das aber nicht“, sagt der frühere Hanauer FDP-Stadtrat Ralf-Rainer Piesold, der an der Frankfurter Fachhochschule Public Administration lehrt. „In der Wirtschaftswissenschaft geht man davon aus, dass der Overhead bei Unternehmensverkleinerungen größer wird.“ Das betreffe vor allem die Personalkosten. Es sei nicht ansatzweise zu erkennen, wie der Kreis die nach der Auskreisung nicht mehr benötigten Stellen einsparen könnte.
Denn: Mitarbeiter aus der Kreisverwaltung, deren Aufgabenbereiche die Stadt Hanau übernimmt, können dorthin wechseln – wenn sie das möchten. Wollen sie dagegen beim Kreis bleiben, könnten sie zum Beispiel umqualifiziert werden, erklärt der Landrat, der ansonsten auch auf natürliche Fluktuation und die demografische Entwicklung setzt, um den Personalüberhang zu reduzieren. Remanenzkosten seien natürlich wahrscheinlich, sagt Stolz: „Aber auch dafür hat die Stadt uns Ausgleichszahlungen zugesagt.“
Noch offen ist dagegen, welche Folgen die Auskreisung für den Rest der Kommunen im Land haben wird. Das Hessische Finanzministerium der Finanzen hat im Jahr 2020 auf Basis der Vorjahreszahlen nur marginale Veränderungen bei den Schlüsselzuweisungen für die meisten Arten von Gebietskörperschaften errechnet, die sich im niedrigen einstelligen Euro-Bereich pro Einwohner bewegen. Größere Abstriche müssten nach dieser Kalkulation die kreisfreien Städte machen, die demnach 21 Euro pro Kopf an Schlüsselzuweisungen verlieren würden. Das Ministerium weist bei seinen Berechnungen aber mit Nachdruck darauf hin, dass diese keine Schlüsse für die Folgejahre zulassen würden.
Hessen vor KFA-Reform
Hessen arbeitet im Moment ohnehin an einer Reform des Kommunalen Finanzausgleichs (KFA). Die Auskreisung Hanaus sei kein zentrales Thema der Reform, teilt das hessische Finanzministerium auf Nachfrage mit. „Gleichwohl ist es erforderlich, Vorkehrungen im zukünftigen Finanzausgleichsgesetz zu treffen, damit eine Auskreisung Hanaus aus dem Main-Kinzig-Kreis zu sachgerechten Ergebnissen führt. Um dies zu gewährleisten, ist der Sachverhalt bei der KFA-Evaluation Gegenstand wissenschaftlicher Begutachtung.“
„Wir vermuten, dass das Land nicht mehr Geld in den Topf geben wird und die Differenz entweder zu Lasten des Main-Kinzig-Kreises oder aller hessischen Kommunen geht. Diese Kosten müssen dann über die Grund- und Gewerbesteuer aufgefangen werden“, warnt allerdings Kolja Saß, der finanzpolitische Sprecher der FDP-Kreistagsfraktion. Ob dieses Szenario Wirklichkeit wird oder nicht, wird sich nach dem 1. Januar 2026 zeigen: Dann soll nicht nur die KFA-Reform, sondern zeitgleich die Auskreisung der Stadt Hanau vollzogen werden. Und dass Letzteres eintreten wird, daran zweifeln auch die ärgsten Kritiker von Hanaus Kreisfreiheit nicht mehr.
s.doebeling@derneuekaemmerer.de
Info
Dieser Beitrag ist in einer leicht gekürzten Fassung in der aktuellen Zeitungsausgabe von Der Neue Kämmerer erschienen.
Dr. Sarah Döbeling ist gemeinsam mit Vanessa Wilke Chefredakteurin der Zeitung „Der Neue Kämmerer“. Sarah Döbeling hat Rechtswissenschaften in Kiel studiert und zu einem konzernrechtlichen Thema promoviert. Im Anschluss an ihr Volontariat bei der F.A.Z. BUSINESS MEDIA GmbH war sie bis 2015 Redakteurin des Magazins „FINANCE“ und verantwortete zudem redaktionell die Bereiche Recht und Compliance innerhalb von F.A.Z. BUSINESS MEDIA. Nach weiteren Stationen beim Deutschen Fachverlag und in einer insolvenzrechtlich ausgerichteten Kanzlei kehrte Sarah Döbeling im September 2017 in die F.A.Z.-Verlagsgruppe zurück und leitet seitdem die Redaktion der Zeitung „Der Neue Kämmerer“.